„Nabucco“ von Verdi – TOBS

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Kritik:BIEL/ SOLOTHURN/ Nebia Biel: NABUCCO. Grosse Musik in kleinem Theater

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Kritik aus Bümpliz und der Welt

Nabucco. Giuseppe Verdi.
Oper.
Franco Trinca, Yves Lenoir, Brono de Lavenère, Jean-Jacques Delmotte, Mario Bösemann. Theater Orchester Biel Solothurn.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 11. Februar 2023.

Ein sehr beachtlicher „Nabucco“: Giuseppe Verdis Kriegs-, Volks- und Schreckensoper, durchzogen von Blut, Feuer, Lästerung und Verdammnis, erzählt Theater Orchester Biel Solothurn mit so wohlbemessener Klassizität, dass die inszenatorischen Zeichen ihre Wirkung entfalten, ohne Sängern und Orchester den Primat streitig zu machen. Damit entsteht im Zusammenspiel von Szene, Musik und Handlung ein fein austariertes Ganzes, das durch seine Intensität bestrickt und beeindruckt. <

Als das Zürcher Opernhaus vor vierzig Jahren umgebaut wurde, kam der damalige Direktor Claus Helmut Drese auf den Gedanken, Chor und Orchester derweil im Hallenstadion zu beschäftigen. Dafür inszenierte er 1986 „Nabucco“. Die zehn Vorstellungen waren ausverkauft bis zur 32. Reihe. Hunderttausend Zuschauer mobili­sierte die Produktion. Das Orchester hatte 120 Mitwirkende. „Va, pensiero“ erklang aus über fünfhundert Kehlen. Und während zwanzig Jahren war „Der Gefangenenchor“ der meistgewünschte Titel im Wunschkonzert von Radio DRS-1.

Der Chor von Theater Orchester Biel Solothurn ist zehnmal kleiner; füllt aber in beeindruckendem Mass die Bühne des Nebia. Und weil man in Biel näher dran ist, kann man zu jedem einzelnen Chormitglied in Beziehung treten: Zur Frau mit der Krücke; zum schwarzhaarigen, grossgewachsenen Jungen hinten; und zum Alten am Rand mit dem bescheidenen, gutmütigen Ausdruck. Das „Volk Israel“ steht den Zuschauern nicht als Masse vor Augen, sondern als Gemeinschaft von Individuen, jedes mit seiner eigenen Herkunft, seinem eigenen Schicksal. So zeigt „Nabucco“ nicht eine anonyme Volksmenge, sondern Angehörige der Zivilgesellschaft.

Ihren modernen Ansatz verdankt die Oper am Fuss des Juras einem jungen, hochbegabten Regisseur, der vieles weglässt, um das Wesentliche zu bringen: konzentirerte, mitreissende Porträts. Die Darsteller stehen nicht bloss im Dienst des Gesangs, sondern der Rolle. Als Figur sind sie alle glaubwürdig und anrührend in ihrer Seelennot, unabhängig von der Immoralität der jeweiligen Leidenschaften. Damit verwirklicht die Inszenierung von Yves Lenoir eine grosse, humane, anti-fanatische Darstellungsweise, die sich wohltuend vom engen Hate-Speech der sogenannten sozialen Medien abhebt.

Am Tag, wo SRF meldet: „Der Krieg in der Ukraine könnte uns noch Jahre beschäftigen“, wirkt die Botschaft der Oper, dass der liebe Gott schon zum rechten schauen und sein Volk wundersam (d.h. gegen alle Wahrscheinlichkeit) erlösen werde, indem er den bösen Gewaltherrscher mit Wahnsinn schlagen und vom Thron entfernen werde, nicht mehr glaubwürdig, sondern naiv.

Um uns Verdis biblisch inspirierte Heilsgeschichte trotzdem erzählen zu können, umspannt Yves Lenoir die Handlung mit einem riesigen, künstlerisch geradezu ehrfurchtgebietenden Bogen, dessen Ausdehnung das Publikum erst in den beiden letzten Szenen begreift. In „Nabucco“ zeigt nämlich die Inszenierung nichts anderes als den Traum eines geschundenen Kollektivs mit seinem Wunsch nach Erlösung von dem Bösen.

Darum sehen wir beim Aufgehen des Vorhangs gleich wie zweieinhalb Stunden später bei seinem Fall dasselbe Bild: eine indistinkte, durcheinandergeworfene Masse von Körpern, Kleidern und Gliedern (Kostüme Jean-Jacques Delmotte). Vom Traum der Daliegenden erzählt jetzt die Oper, und deshalb leitet Beleuchtungsmeister Mario Bösemann jeden Abschnitt mit dem visionären Aufdämmern eines Leitrequisits ein.

Den Anblick von Körpern, Kleidern und Gliedern hatten am Ende des Zweiten Weltkriegs die Befreier, als sie die Konzentra­tions­lager aufsperrten: Da lagen Tote und Sterbende durchein­ander.

Beeindruckend ist in diesem Zusammenhang, dass einzelne Chormitglieder den Mut, die Grösse und das Verständnis hatten, sich ausziehen zu lassen und ihre alten, bemitleidenswerten Körper nackt zu zeigen. Mit dieser Darstellung evozieren sie das Grauen auf den Güterrampen von Ausschwitz und bringen den Zuschauern das Leid der Namenlosen nahe.

Mit seinen feinen, ästhetisch wirkenden Metallketten spielt das Bühnenbild von Bruno de Lavenère an die unästhetischen, elektrisch geladenen Metalldrähte an, die im Dritten Reich die gefangenen Juden umschlossen. So zur Darstellung gebracht, spielt „Nabucco“ in der Zeitlosigkeit. Zwischen dem ersten und letzten Bild ist keine Sekunde vergangen. Wir haben, zusammen mit den Geschundenen, eine Handlung vor Augen gehabt, die ausserhalb der Wirklichkeit läuft und das Trotzdem der Utopie formuliert. Mit diesem Konzept erweist sich der junge Yves Lenoir als hochbegabter, ernstzunehmender Regisseur.

Für jede Rolle stehen ihm Sänger zur Verfügung, die keinen Wunsch offenlassen, weder darstellerisch noch gesanglich. Hinreissend schon Altmeister Michele Govi mit seinem körpersprachlich fein durchgestalteten Nabucco-Porträt. Aber ebenso berührend die beiden feindlichen Schwestern, die leidenschaftliche Abigaille (Serenad Uyar) und die sanfte Fenena (Anna Pennisi). Dazu kommen die beiden grossen Männerstimmen: Alexey Birkus als Zaccaria, ein Bass von höchstem Format, und Giorgi Sturua als Ismaele, ein warmer, runder Tenor, dessen Wohlklang aufhorchen lässt. Beachtenswert schliesslich Mira Alkhovik, eine Studentin der Hochschule der Künste Bern, in der kleinen Rolle der Anna.

Bei dieser Gelegenheit zeigt sich einmal mehr, wie gut sich der Saal von Nebia seit seiner Renovation fürs Musiktheater eignet. Der Klang ist natürlich und klar, er erreicht das Ohr mit packender Unmittelbarkeit, und der Nachhall stimmt.

Das Sinfonie Orchester Biel Solothurn spielt engagiert, energisch und präzis. Franco Trinca indes ist mit seinem Dirigat ausschliesslich dem Stil verpflichtet, der die gesamte bauliche Umgebung des Nebia-Gebäudes prägt: Neue Sachlichkeit einerseits, Funktionalität anderseits. Aber so, wie an der Wyttenbachstrasse kein Aufblühen organischer Formen möglich ist, bleibt die Interpretation beim Verkopften stehen, bevor sie das grosse, freie Reich der Musik erreicht. In dieser Hinsicht ist eine Steigerung wünschbar.

Übers Ganze gesehen aber kann man sagen: „Nabucco“ im Hallenstadion war eine zuschauerreiche Veranstaltung. „Nabucco“ in Biel ist grosse Oper.